Drohende Haft – „Wir werden kriminalisiert“ – Eine Leipziger Seenotretterin ist wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ angeklagt
Die Leipziger Seenotretterin Irina Schmidt war Einsatzleiterin auf dem Schiff „Iuventa“. Auf dem Mittelmeer retteten sie und ihre Crew Tausenden Geflüchteten das Leben. 2021 wurden die Besatzung wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ angeklagt. Bei einem Urteil drohen ihr bis zu 20 Jahre Haft. In ihrem Leben richtet das einiges an.
Rost frisst sich durch die Außenhaut der „Iuventa“. Auf den Ladeflächen stapelt sich Müll, innen verrottet die Einrichtung. Aktuelle Bilder einer Erosion im Hafen der sizilianischen Stadt Trapani, die für die Leipzigerin Irina Schmidt als Symbol steht: für Behörden, die Geflüchteten sich selbst und dem Sterben überlassen. Auch für den bewussten Verfall einer Kooperation mit Rettungsorganisationen, die einmal ausgezeichnet funktionierte.
Bis 2017 hat die 39-Jährige mit weiteren Rettungskräften auf dem Schiff der nicht-staatlichen Organisation (NGO) „Jugend rettet“ Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken bewahrt, in Übereinkunft mit der Seenot-Leitstelle – bis die Iuventa unerwartet beschlagnahmt und ein Gerichtsverfahren in Gang gesetzt wurde, das Schmidt als Farce bezeichnet. Von der zweiten Anhörung wegen des Vorwurfs der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ ist sie gerade zurückgekehrt. Eine neue Entwicklung, so sagt sie, hat es nicht gegeben.
„Die Anklage ist unglaublich“
Seit fünfeinhalb Jahren zieht sich der Vorgang durch das Leben von Irina Schmidt. Vom Alltag zurückgedrängt, aber wiederkehrend, wie ein juristischer Tinnitus. Durch Gespräche mit Anwältinnen, durch Gedanken über das mögliche Urteil, vor allem durch die anhaltende Fassungslosigkeit. „Mit der Anklage behauptet die Staatsanwaltschaft, dass die Menschen, die wir gerettet haben, nie wirklich in Seenot gewesen sind. Das ist unglaublich.“
2016 begann die gebürtige Berlinerin und ausgebildete Ergotherapeutin, sich ehrenamtlich für Geflüchtete zu engagieren. Sie arbeitete in einer Küche, die Menschen auf der Balkanroute versorgte, später in der Organisation für Hilfstransporte. Das Schicksal derer, die aus Verzweiflung vor Krieg oder Armut ihre Länder verließen und nicht nur geografisch an Grenzen stießen, ließ Irina Schmidt nicht mehr los. Noch im selben Jahr schloss sie sich der Crew der Iuventa an. Bei sieben der 16 zweiwöchigen Einsätze, bei denen über 14.000 Leben gerettet wurden, war sie mit an Bord.
Zunächst funktionierte die Zusammenarbeit mit der Seenot-Leitstelle reibungslos. „Wir haben immer in Abstimmung und auf Anweisung gehandelt, bei jedem einzelnen Boot“, sagt Schmidt. Was sie und die anderen nicht wussten: Schon im September 2016 eröffneten die Behörden ein Ermittlungsverfahren, im zeitlichen Umfeld neuer Wahlen, angetrieben von Rechtspopulisten um den späteren Innenminister Matteo Salvini. Die Vorwürfe: Kooperation mit Schlepperbanden in Libyen sowie Beihilfe zur illegalen Einreise. Wie das Iuventa-Team später erfuhr, hatten verdeckte Ermittler Wanzen auf dem Schiff angebracht.
Am 2. August wurde die Iuventa im Hafen von Lampedusa von Blaulicht, Polizei und einem Tross Journalisten empfangen. „Eine für die Medien perfekt arrangierte Inszenierung“, wie Schmidt kommentiert, damals die Einsatzleiterin an Bord. Das Schiff wurde beschlagnahmt, die Besatzung verhört. Aus ihrer Kabine wurden ihr privater Laptop, Mobiltelefon, Notizblock und anderes konfisziert.
Bis zu 20 Jahre Haft drohen
2021 wurde das Ermittlungsverfahren gegen 21 Personen eingeleitet, dazu gegen die an den Rettungsaktionen beteiligten NGOs Save The Children und Ärzte ohne Grenzen sowie die beteiligte Reederei. Bei einem Urteil drohen bis zu 20 Jahre Haft und Strafen in Millionenhöhe. „Wir werden dafür kriminalisiert, dass wir Menschenleben retten, die durch irrsinnige Vorschriften aufs Spiel gesetzt werden“, kritisiert die ehrenamtliche Helferin.
Bei Vernehmungen der deutschen Angeklagten hat sich die Staatsanwaltschaft laut Iuventa-Crew zum wiederholten Mal geweigert, professionelle Dolmetscher zu stellen, um den auf Italienisch verfassten Schriftsatz zu übersetzen. Die Ermittlungen und angeblichen Indizien strecken sich über 28 000 Seiten. „Reine Schikane“, nennt das Irina Schmidt, „es ist Teil eines Exempels, das hier statuiert werden soll. NGOs sollen abgeschreckt werden.“
Hoffnung auf Freispruch
Mindestens bis Jahresende, so schätzen ihre Anwältinnen, können die Vorverhandlungen dauern. Wegen der Haltlosigkeit der Vorwürfe hoffen sie, dass es zu einem Freispruch kommt. „Trotzdem ist der Blick in die Zukunft wie eine Kristallkugel, und die Ungewissheit beeinflusst mich.“ Groß beklagen will sich Schmidt nicht, denn „wir haben die mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung, die Tausende Geflüchtete nicht bekommen“.
Dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten Push-Backs – das Abweisen oder Zurückdrängen von Schutzsuchenden – verüben, „ist ein Verbrechen und menschenfeindlich.“ Mit Billigung der EU führt auch die libysche Küstenwache, die Schmidt eher als Milizen ansieht, regelmäßig Pull-Backs durch, also das Hindern an der Ausreise, dem häufig Entführungen bis Folter folgen.
Weitere Hilfe von Leipzig aus
Soweit sie kann, hilft Irina Schmidt gelegentlich bei der Organisation von Einsätzen des zivilen Rettungsschiffs „Louise Michel“. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit unterschiedlicher selbstständiger Arbeit. Gemeinsam mit Franziska Wolff produziert sie den Podcast „Der blinde Fleck linker Männer“ (https://feminismonear.productions/).
Auch von Leipzig aus will sie für Benachteiligungen, Rassismus und Diskriminierung sensibilisieren, die Dynamik von Ausgrenzung sichtbar machen. „Dafür muss man sich nicht auf einem Rettungsschiff befinden. Es ist ebenso wichtig, abwertende Bemerkungen an der Supermarktkasse nicht durchgehen zu lassen.“
Das Schiff verfällt
Auf der beschlagnahmten Iuventa war Irina Schmidt zuletzt im Frühling 2022. Der Zustand hat sie schockiert. Die Einrichtung ist verwüstet, die Ausstattung verwittert. Nur der Wandkalender, der noch immer den August 2017 behauptet, leugnet den Verfall. Die Organisation „Jugend rettet“ hat Strafanzeige gegen die Behörden wegen Zerstörung der Iuventa gestellt. „Gesetzlich ist der italienische Staat verpflichtet, das Schiff seetauglich zu halten. Doch darum kümmert er sich ebenso wenig wie um das Schicksal von Menschen auf der Flucht.“
Wie auch immer der Prozess gegen die Iuventa-Crew und Irina Schmidt ausgeht, „diese Erlebnisse werden mich immer begleiten. Und kein Gericht der Welt kann mir die Gewissheit nehmen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige getan zu haben.“